Kerzen für Roh
Südkoreas Wähler könnten den geschassten Präsidenten rehabilitieren
Kann man tiefer stürzen? Südkoreas Präsident Roh Moo Hyun steht vor einem Trümmerhaufen – so jedenfalls könnte es scheinen. Keine eineinhalb Jahre nach seinem überraschenden Wahlsieg hat das Parlament in Seoul mit Zwei-Drittel-Mehrheit ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn eingeleitet. Die beiden großen Oppositionsparteien werfen Roh vor, im Wahlkampf für die Parlamentswahlen am Donnerstag nächster Woche seine Pflicht zu parteipolitischer Neutralität missachtet und die ihm nahe stehende Uri-Partei („Unsere Partei“) unterstützt zu haben. Ob der Präsident sein Amt je wieder ausüben darf, entscheidet das Verfassungsgericht, das für sein Urteil sechs Monate Zeit hat.
Befindet sich die junge südkoreanische Demokratie also in ihrer ersten schweren Verfassungskrise, wie die konservativen Zeitungen in Seoul schreiben? Ist das Land gar „außer Kontrolle“, wie das US-Magazin Time titelt? Mitnichten. In Wirklichkeit könnte Südkorea nach dem unrühmlichen Amtsenthebungsverfahren erneut vor einer demokratischen Sternstunde stehen. Denn am kommenden Donnerstag entscheidet das Volk, und wenn nicht alle Umfragen trügen, wird der ehemalige Dissidentenanwalt Roh, Präsident oder nicht, eine parlamentarische Mehrheit für seine Politik gewinnen, die völlig ohne die alten politischen Kräfte der Diktatur auskommt. Kann man mehr erreichen?
Südkorea tickt eben anders, allen voran der entmachtete Präsident. Vor sieben Jahren, während der Asien-Krise, war Roh noch Mitinhaber eines Restaurants in Seoul. „Kim Dae Jung hatte damals seine Milleniums-Partei gegründet. Da wollten wir nicht mitmachen“, erzählt Rohs Freund Yoo In Tae. Yoo, eine Kämpfernatur mit breitem Lachen, war bis Februar Leiter des Büros für politische Angelegenheiten im Blauen Haus, dem Amtssitz des Präsidenten. In den siebziger Jahren war er wegen seiner politischen Aktivitäten als Studentenführer zum Tode verurteilt worden, kam aber mit einer Haftstrafe davon. Heute kandidiert er als Bewerber der Uri-Partei in einem Vorort von Seoul. Bisher hält die Partei nur 49 Sitze im Parlament. Doch selbst die Umfragen in oppositionsnahen Medien sehen einen Erdrutsch-Sieg von Uri voraus. Die Partei könnte 200 Sitze im 300-köpfigen Parlament erobern.
Kühl bilanziert Yoo heute die „Ära der Kim-Reiche“: „Kim Dae Jung und sein Vorgänger als Präsident, Kim Young Sam, haben sich als jahrzehntelange Gegner der Diktatur große Verdienste um unsere Demokratie erworben. Aber sie regierten weiter im alten, imperialen Stil. In ihren Parteien hatten nur sie das Sagen. Erst seit der Wahl Rohs zum Präsidenten im Dezember 2002 stirbt die konservative Tradition der koreanischen Politik aus.“
Wer das nicht merkt, verschwindet von der politischen Bühne – so wie jetzt offenbar die beiden Altparteien. Dabei hatten gerade sie sich von ihrem Amtsenthebungsverfahren gegen Roh Zuspruch aus der Bevölkerung erhofft. Der Präsident galt bereits nach 13 Monaten im Amt als unpopulär. Doch schon 30 Stunden nach der Abstimmung im Parlament demonstrierten 100000 entrüstete Bürger mit Kind und Kerzenlichtern gegen die Amtsenthebung. Am nächsten Tag waren es 200000. Über drei Wochen lang setzten sich die friedlichen Kundgebungen Tag für Tag fort.
Demonstrationen in Südkorea waren früher ein Synonym für Radikalität und Gewalt. „Diesmal zeigte sich der neue Mainstream“, schwärmt Hwang Seok Young, Südkoreas bekanntester und gewöhnlich beißend kritischer Schriftsteller. Noch nie war Hwang auf sein Land so gut zu sprechen wie heute. „Die Leute sind nicht naiv; sie sind klug, fast weise und immer gewaltlos“, sagt der Bestsellerautor. „Sie hegen eine Vision von Freiheit und Demokratie, keiner von ihnen käme mehr auf den Gedanken, einen Molotow-Cocktail gegen ein Ministerium zu schmeißen. Zwar lesen sie keine Zeitungen, aber sie nutzen das Internet und sind gut informiert.“
Ob das der Grund dafür ist, dass an der Polizeizentrale in Seoul neuerdings in großen gelben Buchstaben die Web-Adresse „www.police.go.kr“ zu lesen ist? Vor dem Gebäude tobten früher Straßenschlachten. Jetzt will auch die Polizei nicht den Anschluss an die Internet-Generation verlieren.
Im Ausland hat der neue Stil der bürgerlichen Opposition bereits Eindruck gemacht. „Wir halten trotz politischer Unsicherheiten an unseren positiven Wachstumsprognosen fest“, schreibt die US-Investmentbank Goldman Sachs in ihrem jüngsten Korea-Bericht. Das Saubermann-Image des Präsidenten trägt zu seinem positiven Bild im Ausland sicher bei. Sogar Rohs Kritiker daheim räumen ein, dass die Justiz des Landes unter seiner Führung erstmals wirkliche Unabhängigkeit erlangt hat. Weshalb bereits 20 Abgeordnete im Gefängnis sitzen.
Die Zeit 2004. 04.07 (German)
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